D. Fischer: Stadtbürgerlicher Eigensinn in der DDR?

Titel
Stadtbürgerlicher Eigensinn in der DDR?. DDR-Stadtjubiläen zwischen parteipolitischer Intention und kommunaler Selbstdarstellung


Autor(en)
Fischer, Daniel
Reihe
Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde (68)
Erschienen
Anzahl Seiten
379 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Minner, Historisches Seminar, Didaktik der Geschichte, Universität Siegen

Fast möchte die Rezensentin ausrufen: Endlich – diese Studie war längst überfällig! Aufbauend auf (Stadt-)Jubiläums-Forschungen insbesondere der 2000er- bis 2010er-Jahre hat sich Daniel Fischer in seiner an der TU Dresden 2020 angenommenen Dissertation daran gemacht, systematisch Stadtjubiläen in der DDR zu untersuchen. Er analysiert das Spannungsfeld dieser kommunalen Repräsentationsakte zwischen lokaler Urbanität und städtischem Eigensinn einerseits und dem totalen staatsparteilichen Herrschaftsanspruch andererseits. Herausgekommen ist eine spannende Vermessung, die sich nicht darin erschöpft, die festlichen Anlässe als politisch orchestrierte Propaganda-Veranstaltungen in politisch marginalisierten Stadträumen mit mehr oder weniger großem Erfolg zu sehen. Vielmehr kann der Autor auf Basis des Eigensinn-Konzepts Spielräumen und Grenzen der ideologischen Doktrinen sowie der Kontrolle und Durchherrschung eines zentralistischen Einheitsstaates nachspüren. Die Stärke der Studie ist die Ausleuchtung der Grauzonen. Verweigerte oder (bewusst wie unbewusst) modifizierte politische Überformungen stellt er nicht als regimefeindliche Widerstandshandlungen fest, sondern sieht bisweilen regimestabilisierende Effekte darin.

Fischer weist nach, dass die Städte jenseits des politischen Zentralismus nach innen nicht einflusslos waren und gerade für die Bevölkerung eine wichtige Orientierungsfunktion hatten. Städtische Repräsentation kam nicht ohne „Werteüberhänge“ „alter“ Bilder aus – ganz offensichtlich konnte das sozialistische Wertesystem nicht vollends überzeugen und Muster der vorsozialistischen Zeit über 40 Jahre hinweg nicht gänzlich verdrängen. Bürger reagierten ablehnend auf Bilder, die ihren „lokalen Wissensstrukturen“ (S. 313) nicht entsprachen. Stadträume zeigten sich nicht bedingungslos überform- und vereinnahmbar. SED-Meistererzählungen verfingen nicht in dem Maße, wie Staatsführung und Ideologen sich das vorstellten, sondern wurden in Aushandlungsprozessen modifiziert, positiv besetzte Symbole wie Friedenstaube und Wiederaufbau aufgenommen, zu stark erscheinende „Verfremdungen“ oder „ideologische Imprägnierungen“ (S. 325) aber abgewehrt. Wurde das Lokalkolorit gewahrt, ließen sich staatliche Kommuneninszenierung und kommunale Selbstdarstellung „harmonisieren“ (S. 325).

Als erkenntnisleitende Rahmung geht Fischer auf drei Forschungsstränge ein: 1) das historische Jubiläum als institutioneller Mechanismus, 2) Besonderheiten der Städte im Staatssozialismus/DDR-Kommunalwesen, 3) Entbürgerlichung als gesellschaftlicher Wandlungsprozess. Methodisch stützt er sich auf raumtheoretische Konzepte, insbesondere von Henri Lefebvre.

Der Hauptteil beginnt mit der Ausgangslage der parteipolitischen Intentionen, um den Kontext der Feierlichkeiten zu bestimmen. Fischer erläutert das Konzept der Sozialistischen Stadt sowie den Stand der SED-Geschichtsbild-Konstruktion, geht dann auf die transformatorischen (Neu-)Besetzungen des städtischen Raumes sowie die Entwicklung der Baupolitik ein. Nationale Geschichte drängt die lokale in die Bedeutungslosigkeit, Straßen wurden umbenannt, Denkmäler symbolisch neubesetzt und urbane Räume durch Abriss oder Verfall destruktiv umgestaltet.

Vor dem Hintergrund des idealtypischen Leitbilds des SED-Staates und seiner offen antibürgerlichen Kulturpolitik nimmt der Autor in drei Abschnitten exemplarische Tiefenbohrungen ausgewählter Stadtjubiläen aus dem sächsischen Raum vor – allerdings mit allgemeingültigem Anspruch und flankierenden Beispielen aus anderen Bezirken. Er führt aus, wie Jubiläen angebahnt wurden und welche Akteure beteiligt waren, welche Bilder und Narrative in den Jubiläen auftraten sowie, speziell auf den Festzug heruntergebrochen, welche Geschichtskonzepte dieser spiegelte und welche Veränderungen durch soziale Praxis hier eintraten. Die Trennung von „Formanten“ der Stadtdarstellung in Publikationen/Festzeitungen, Souvenirs, Plakaten, Stadtschmuck, Stadtbenennungen, Delinquenz als Störung im Stadtraum (Kap. 4) und dem Festzug als herausragendem Festelement (Kap. 5) lässt sich arbeitstechnisch nachvollziehen, liegt konzeptionell aber etwas quer, da es in beiden Kapiteln um Geschichtsbilder geht und diese nach den Kategorien „(Selbst-)Darstellung und Eigensinn“ untersucht werden.

Drei Hauptthemen beobachtet Fischer in den stadträumlichen (Selbst-)Darstellungen, die jeweils von einem Spannungsfeld von Gegensätzlichem geprägt waren: alte/neue Stadt, Stolz/Depression und Eigenes/Fremdes. Hinsichtlich von Festzeitungen und Festschriften kann Fischer ein unterschiedliches Maß parteilicher Einflussnahme belegen: je schwerer zu kontrollieren, desto stärker Bezüge zum vorsozialistischen Stadtgedächtnis und desto mehr städtischer Eigensinn. Noch stärkere Aushandlungsprozesse, die zu einem Nebeneinander oder einer „Harmonisierung“ von Bildern der „alten“ und „neuen“ Stadt in der Kombination von Stadt- und Staatssymbolik führten, konstatiert er bei den bildlich-materiellen Darstellungen von Plakaten, Postkarten, Anstecknadeln und anderen Souvenirs. Dem städtischen Stolz im Fest, der sowohl aus einem Fortschrittsglauben sozialistischer Utopie als auch aus dem Stolz auf eine „vielgestaltige Historie“ (S. 201) herrühren konnte und eine große Beteiligungsbereitschaft antrieb, stand die Depression aus Alltagserfahrungen von Mangel und Verfall sowie Enttäuschung und Kränkung über eine bevorzugte Behandlung Berlins gegenüber.1 In der Kontrastierung von „Eigenem“ und „Fremdem“ geht er auf die Ambivalenz von Stadtumbenennungen (Chemnitz) ein, denen im Stadtgedächtnis mit einer resistenten Benutzung der alten Benennungen begegnet wurde. Besonders interessant wird es in diesem Abschnitt bei den Störmomenten im Fest durch Delinquenz und „Rowdytum“, die von der SED und den staatlichen Überwachungsinstanzen insbesondere Jugendlichen zugeschrieben wurden und in ihrer kritischen Betrachtung zu Übereinstimmungen zwischen Stadtöffentlichkeit und Staat führen konnten.

Für das zentrale Festelement des Festzugs, in dem Staat und Partei großes agitatorisches Potential sahen, arbeitet Fischer drei Phasen heraus. Hier prallten „lokaler Inszenierungswille“ und „staatliche Doktrin“ am deutlichsten aufeinander (S. 14). Während sich die erste Phase noch an bisher bewährten urbanen Bildern mit Rückbezug auf historische Ereignisse und „Werteüberhang“ der „bürgerlichen“ Prägung in chronologischer Abfolge orientierte, zeichneten die zweite Phase (ab Mitte der 1950er-Jahre mit Höhepunkt während der 1960er-Jahre) Ansprüche einer starken ideologischen Überformung aus, die sich von der Stadt ablöste. In thematischen Abschnitten wurden Errungenschaften des Sozialismus und Zukunftsvisionen festgeschrieben. Diese Ausrichtung schwächte sich in der dritten Phase im Verlauf der 1970er-/1980er-Jahre mit einem geschichtspolitischen Umdenken wieder ab, indem eine „partielle Entideologisierung“ griff (S. 292), „Erbe und Tradition“ und damit auch der Stadtgeschichte wieder mehr Raum zugestanden wurden.

Fischer stellt klar, dass Darstellungen mit „bürgerlichen“ Narrativen, Unangepasstheiten im Fest (z.B. bei der Festzugbeteiligung oder bei den Konzertveranstaltungen), Konflikte wegen Bildentwürfen und Wegbleiben in der Regel nicht als dezidierte Gegenerzählungen, bewusste Verweigerung oder gar Widerstand, sondern als „Parallel-/Alternativgeschichten“, individueller Eigensinn und „jugendliche Subkultur“ zu werten sind. Mit anschaulichen Beispielen gelingt es ihm, ein beachtliches „urbanes Beharrungsvermögen“ (z.B. S. 179) gegenüber aufoktroyierten Raumkonzepten zu belegen. Der SED gelang es angesichts von kommunalen Darstellungsbedürfnissen aus stadtbürgerlichem Eigensinn nicht, die Jubiläen vollends zu „sozialistischen Heimatfesten“ umzuformen.

Wie Fischer selbst schreibt, erfindet er das Stadtjubiläums-‚Rad‘ nicht neu, sondern baut auf mehreren einschlägigen Studien mit ihren die Fragen nach Herrschaftslegitimation, Konsensherstellung und Geschichtsbildern auf und schreibt vergleichbare Befunde fort (Boom des Festtyps, „willkürlicher“ Anlass, Überdauern alter Bilder, Auswirkung sozialer Praxis der Akteure). Eine neue Perspektive entwickelt die Arbeit aber durch ihren raumtheoretischen Zugriff. Blass bleibt die Studie bei einer Nahsicht zum Beispiel auf spezielle handelnde Akteure vor Ort. Da wäre sicher noch Potential zu interessanten Erkenntnissen gewesen. Dadurch wirkt „die“ Stadt vergleichsweise homogen bzw. monolithisch, wobei auch hier von ganz verschiedenen Interessensrichtungen bei zahlreichen Akteuren, Stadtvierteln, Gruppen, Betrieben etc. auszugehen ist.

Unvermeidlich wirft die Lektüre des Bandes die Frage nach einem deutsch-deutschen Vergleich auf. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ein solcher liegt außerhalb dessen, was in der Studie zu bewältigen gewesen wäre. Dennoch regt sie an, den Blick über die Grenze zu werfen. Prägten die Städte im Westen doch auch in den 1960er-Jahren Prozesse der ‚Modernisierung‘, was etwa in Bezug auf die Baupolitik zur sogenannten Welle der „zweiten Zerstörung“ zugunsten einer autogerechten Stadt führte und in den 1970er-Jahren eine Gegenbewegung mit dem wieder stärker ins Bewusstsein rückenden Wert von Historischem auslöste. Gab es mehr strukturelle ‚Gemeinsamkeiten‘ zwischen Ost und West, was bisher als eher unwahrscheinlich gilt? Diesem Kritikpunkt begegnet der Autor im Vorfeld mit dem Hinweis auf (angeblich) fehlende Grundlagenforschung zu Stadtjubiläen im Westen nach 1945. Zwar gibt es keinen vergleichbaren Überblick zum Festtyp nach 1945, aber doch eine ganze Reihe von Einzelfallstudien, die Tendenzen erkennen lassen. Spannend wäre der Blick darauf, dass in der DDR das traditionelle Element Festzug bis zum Ende Kernbestand der Feste blieb, während im Westen spätestens ab den 1960er- und 1970er-Jahren dieser – zumindest in mittleren bis großen Städten2 – aus den Programmen ausgemustert und stattdessen auf mehr Volksfestelemente gesetzt wurde, die in ihrer Breite alle Teile der Bevölkerung ansprechen sollten. Neue Themen in den Festen im Westen waren Demokratisierung und zum Teil auch internationale Kontakte ins westeuropäische Ausland, wie sie über Partnerstädte angebahnt worden waren.

Daniel Fischer hat eine sorgfältig durchdachte, eingängig lesbare und argumentativ überzeugende Studie vorgelegt, die für weitere JubiläumsforscherInnen einschlägig sein wird. Der Band macht darauf aufmerksam, dass die Städte bzw. das Potential städtischen Handelns in den Forschungen zur DDR vielfach unterschätzt worden sind: Hier wurde jenseits des Herrschaftsanspruchs mehr ausgehandelt, da sich der historisch gewachsene und auch in der DDR-Zeit lebendige Sozialraum Stadt sehr viel dauerhafter und komplexer zeigte als gedacht.

Anmerkungen:
1 Hier zeigt sich die Vergleichsebene asymmetrisch: Das stark aufgeladene staatspolitische Ereignis der 750-Jahr-Feier Berlins 1987 ist kaum vergleichbar mit den Festivitäten der anderen Kommunen.
2 Aus den Arbeiten der Rezensentin lässt sich das z.B. für die Städte Bielefeld (1964), Bocholt (1972) und Siegen (1974) konstatieren.

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